Kleine dynamische Bezugnahmeklausel
Orientierungssätze der Richterinnen und Richter des BAG:
1. Die arbeitsvertragliche Vereinbarung, wonach der Chefarzt eines Krankenhauses eine Vergütung „entsprechend der Vergütungsgruppe I BAT der Anlage 1 a zum BAT (VKA) in der jeweils gültigen Fassung“ erhält, ist eine kleine dynamische Bezugnahme, die weder eine Erstreckung auf den TVöD noch eine solche auf den TV-Ärzte/VKA trägt. Da das Objekt der Bezugnahme von den Tarifvertragsparteien nicht mehr weiterentwickelt wird, sind Bezugnahmeklauseln dieses Inhalts seit der Ersetzung des BAT durch den TVöD zum 1. 10. 2005 lückenhaft.
2. Die Regelungslücke ist zu diesem Zeitpunkt mittels ergänzender Vertragsauslegung regelmäßig dahingehend zu schließen, dass sich die Vergütung des Chefarztes nach der Entgeltgruppe 15Ü TVöD richten soll. Einen Anspruch auf Vergütung nach der Entgeltgruppe IV TV-Ärzte/VKA ab 1. 8. 2006 begründet eine derartige Bezugnahmeklausel nicht.
Eine Erstreckung auf den TV-Ärzte/VKA trägt der Wortlaut der Bezugnahmeklausel aber nicht. Der TV-Ärzte/VKA ist keine „gültige Fassung“ des BAT. § 8 I des Arbeitsvertrags ist zeit-, nicht jedoch inhaltsdynamisch ausgestaltet. Ein Zusatz, dass auch die den BAT ersetzenden Tarifverträge Anwendung finden sollen, wurde nicht in die Vergütungsvereinbarung der Parteien aufgenommen (vgl. BAG, NZA 2011, 109; BAG, NZA 2010, 401 = AP TVG § 1 Bezugnahme auf Tarifvertrag Nr. 73 = EzA TVG § 3 Bezugnahme auf Tarifvertrag Nr. 44 Rdnr. 15; BAG, NZA 2010, 1183 = AP TVG § 1 Bezugnahme auf Tarifvertrag Nr. 76 = EzA TVG § 3 Bezugnahme auf Tarifvertrag Nr. 48 Rdnrn. 18 f.).
[26]aa) Als redliche Vertragsparteien hätten die Parteien, wenn sie bei Vertragsschluss bedacht hätten, dass die arbeitsvertraglich in Bezug genommene Vergütungsordnung durch mehrere tarifliche Vergütungssysteme ersetzt werden könnte, eine Anlehnung ihrer Vergütung an das Vergütungssystem gewählt, das der im Arbeitsvertrag benannten „Vergütungsgruppe I BAT der Anlage 1 a zum BAT (VKA)“ entspricht oder am nächsten kommt. Eine „Überleitung“ bzw. „Ersetzung“ der VergGr. I der Vergütungsordnung zum BAT erfolgte nur durch die Entgeltgruppe 15Ü TVöD. Dagegen enthält der TV-Ärzte/VKA überhaupt keine der VergGr. I der Vergütungsordnung zum BAT entsprechende Entgeltgruppe und hat zudem ein gegenüber dem früheren BAT vollständig neues Eingruppierungssystem für die von ihm erfassten Ärztinnen und Ärzte (also nicht für Chefärzte) geschaffen, §§ 16 ff. TV-Ärzte/VKA. Einer derartigen diskontinuierlichen Ersetzung ihrer Vergütungsabrede hätten redliche Vertragsparteien nicht den Vorzug gegenüber der mit einer Vergütung entsprechend Entgeltgruppe 15Ü TVöD kontinuierlichen Entwicklung gegeben (ähnlich Anton, ZTR 2009, 2 [5]). Es wäre keine angemessene Lösung, im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung die Vergütungsvereinbarung und die Vergütung der Parteien auf ein „neues System“ umzustellen, wenn ein die Kontinuität der bisherigen Vergütungsabrede wahrendes Vergütungssystem zur Verfügung steht. Dass über die von den Parteien gewollte Dynamisierung der Vergütung hinaus der Kl. auch an strukturellen Änderungen der tariflichen Vergütungsregelungen oder an neuen tariflichen Entgeltsystemen für Ärzte, die nicht Chefärzte sind, teilhaben soll, lässt sich dem Regelungsplan des § 8 I des Arbeitsvertrags nicht entnehmen. Dafür hat der Kl. auch keine durchgreifenden Anhaltspunkte vorgebracht.
[27]bb) Ein anderes Auslegungsergebnis lässt sich nicht damit begründen, der TV-Ärzte/VKA sei der „speziellere“ Tarifvertrag. Dabei kann dahingestellt bleiben, ob dem tatsächlich so ist (verneinend etwa Bayreuther, NZA 2009, 935: „tarifrechtlich […] gleichwertig“). Jedenfalls für Chefärzte ist der TV-Ärzte/VKA schon deshalb nicht „spezieller“, weil er für sie ebenso wie der TVöD nicht gilt, § 1 II TV-Ärzte/VKA, und keine Regelungen für die Berufsgruppe der Chefärzte enthält. Zudem handelt es sich bei dem Prinzip der Sachnähe oder Spezialität um eine tarifrechtliche Kollisionsregel, die dazu dient, eine Tarifkonkurrenz aufzulösen (vgl. dazu ErfK/Franzen, 11. Aufl., § 4 TVG Rdnrn. 65 ff. m. w. Nachw.; BAG, NZA 2010, 712 = AP TVG § 3 Nr. 48 = EzA TVG § 3 Nr. 34 Rdnr. 49). Eine Tarifkonkurrenz kann aber bei der arbeitsvertraglichen Bezugnahme auf einen Tarifvertrag nicht entstehen (BAGE 124, 34 = NZA 2008, 364 Rdnr. 20; BAG, NZA 2010, 645 = AP TVG § 3 Nr. 46 = EzA TVG § 4 Tarifkonkurrenz Nr. 23 Rdnr. 99). Für die ergänzende Vertragsauslegung ist deshalb das tarifrechtliche Prinzip der Spezialität ohne Belang, sofern sich nicht aus dem Regelungsplan des Vertrags Gegenteiliges ergibt.
[28]cc) Eine Vergütung entsprechend dem TV-Ärzte/VKA hätten die Parteien nach Treu und Glauben als redliche Vertragsparteien auch nicht deshalb vereinbaren müssen, weil Chefärzte stets mehr verdienen müssten als ihr in Entgeltgruppe IV TV-Ärzte/VKA eingruppierter ständiger Vertreter.
[29]Einen allgemeinen Grundsatz, ein Vorgesetzter sei stets höher zu vergüten als seine ihm unterstellten Mitarbeiter, gibt es im Arbeitsrecht ebenso wenig wie ein „Abstandsgebot“ (BAG, NZA 2011, 109; vgl. für tarifliche Vergütungsregelungen BAG, NZA 2010, 670 Os. = NJOZ 2010, 1452 = AP TVÜ § 4 Nr. 1). Überdies erzielt ein Chefarzt auf Grund der Einräumung des Liquidationsrechts als variablen weiteren Vergütungsbestandteil neben der Festvergütung in der Regel ein höheres Einkommen als die ihm unterstellten Ärzte.
Chefarztvergütung §§ 133, 157, 242 BGB; Tarifvertrag zur Überleitung der Beschäftigten der kommunalen Arbeitgeber in den TVöD und zur Regelung des Übergangsrechts (TVÜ-VKA) §§ 2 I, 4 I, 17 II, 19 II; Tarifvertrag für Ärztinnen und Ärzte an kommunalen Krankenhäusern im Bereich der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (TV-Ärzte/VKA) §§ 1 II, 16
BAG, Urt. v. 29. 6. 2011 − 5 AZR 651/09 (Vorinstanz: LAG Düsseldorf, Urt. v. 13. 8. 2009 − 13 Sa 1673/08), NZA-RR 2012, 192,