Alter
Sozialauswahl und Altersdiskriminierung
BAG, Urteil vom 15.12.2011 – 2 AZR 42/10 (LAG Köln) DB 2012, 1445 und BeckRS 2012, 69831
Der gesetzliche Regelungskomplex der Sozialauswahl verstößt nicht gegen das unionsrechtliche Verbot der Altersdiskriminierung und dessen Ausgestaltung durch die Richtlinie 2000/78/EG. Er führt zu einer unterschiedlichen Behandlung wegen des Alters, die aber durch rechtmäßige Ziele aus den Bereichen Beschäftigungspolitik und Arbeitsmarkt i.S.v. Art. 6 I 1, 2 a der Richtlinie gerechtfertigt sind.
1. Die gesetzliche Vorgabe in § 1 III 1 KSchG, das Lebensalter als eines von mehreren Kriterien bei der Sozialauswahl zu berücksichtigen, und die durch § 1 III 2 KSchG eröffnete Möglichkeit, die Auswahl zum Zweck der Sicherung einer ausgewogenen Personalstruktur innerhalb von Altersgruppen vorzunehmen, verstoßen nicht gegen das unionsrechtliche Verbot der Altersdiskriminierung und dessen Ausgestaltung durch die Richtlinie 2000/78/EG vom 27.11.2000. (Leitsatz des Gerichts)
4. Der gesetzliche Regelungskomplex der Sozialauswahl verstößt nicht gegen das unionsrechtliche Verbot der Altersdiskriminierung und dessen Ausgestaltung durch die Richtlinie 2000/78/EG vom 27.11.2000. Die Berücksichtigung des Lebensalters bei der sozialen Auswahl führt zwar in der Tendenz zu einer Bevorzugung älterer und damit zugleich zu einer Benachteiligung jüngerer Arbeitnehmer. Durch die von § 1 III 2 KSchG im Interesse der Sicherung einer ausgewogenen Personalstruktur ermöglichte Bildung von Altersgruppen wird aber die andernfalls linear ansteigende Gewichtung des Lebensalters unterbrochen und zugunsten jüngerer Arbeitnehmer relativiert. Beides ist durch rechtmäßige Ziele aus den Bereichen Beschäftigungspolitik und Arbeitsmarkt iSv. Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1, Unterabs. 2 Buchst. a der Richtlinie gerechtfertigt. Das Ziel, ältere Arbeitnehmer zu schützen, und das Ziel, die berufliche Eingliederung jüngerer Arbeitnehmer sicherzustellen, werden zu einem angemessenen Ausgleich gebracht. Dies dient zugleich der sozialpolitisch erwünschten Generationengerechtigkeit und der Vielfalt im Bereich der Beschäftigung. Außerdem hindert die Altersgruppenbildung sowohl zugunsten einer angemessenen Verteilung der Berufschancen jüngerer und älterer Arbeitnehmer als auch im Interesse der Funktionsfähigkeit der sozialen Sicherungssysteme, dass eine Vielzahl von Personen gleichen Alters zur gleichen Zeit auf den Arbeitsmarkt drängt.
5. Diesem Ergebnis steht nicht entgegen, dass der Gesetzgeber in § 1 III 2 KSchG die Bildung von Altersgruppen nicht zwingend vorschreibt, sondern sowohl hinsichtlich des „Ob“ als auch des „Wie“ der Gruppenbildung dem Arbeitgeber – ggf. gemeinsam mit dem Betriebsrat – einen Beurteilungs- und Gestaltungsspielraum einräumt. Inwieweit Kündigungen Auswirkungen auf die Altersstruktur des Betriebs haben und welche Nachteile sich daraus ergeben, hängt von den betrieblichen Verhältnissen ab und kann nicht abstrakt für alle denkbaren Fälle beschrieben werden.
6. Der Arbeitgeber, der sich auf § 1 III 2 KSchG berufen will, muss zu diesen Auswirkungen der Kündigungen und möglichen Nachteilen konkret vortragen. Jedenfalls wenn die Anzahl der Entlassungen innerhalb einer Gruppe vergleichbarer Arbeitnehmer im Verhältnis zur Anzahl aller Arbeitnehmer des Betriebs die Schwellenwerte des § 17 KSchG erreicht, kommen ihm dabei Erleichterungen zugute; bei einer solchen Sachlage ist ein berechtigtes betriebliches Interesse an der Beibehaltung der Altersstruktur – widerlegbar – indiziert.
7. Eines Vorabentscheidungsersuchens an den Gerichtshof der Europäischen Union nach Art. 267 AEUV bedurfte es nicht. Das für die Beurteilung der Vereinbarkeit des Regelungskomplexes der Sozialauswahl mit Unionsrecht maßgebliche Verständnis von Art. 6 I der Richtlinie 2000/78/EG ist durch die jüngere Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union geklärt. (Orientierungssätze des Gerichts)